Qualitätsreserven in Verteilnetzen – Forschungsprojekt QuVert mit Camille Bauer Messinstrumenten
Im Forschungsprojekt QuVert (Nutzung von Qualitätsreserven in Verteilnetzen), das vom Bundesamt für Energie BFE unterstützt wird, erforscht ein Team des Labors für Elektrizitätsnetze der BFH gemeinsam mit acht Partnern, wie viel Reserve die Verteilnetze bezüglich Spannungsqualität aufweisen und wie sich die zunehmende Netzauslastung auf die von der Norm beschriebenen Phänomene auswirkt [1]. Die Spannungsqualität wird in Niederspannungsnetzen wegen des hohen Aufwands nicht flächendeckend erfasst. Deren Ausprägung und die Einflüsse auf das Stromnetz durch neue Anlagen können also mit den bisher vorhandenen Daten nicht wissenschaftlich beurteilt werden.
Zur Untersuchung der Qualitätsreserven wird im Rahmen des Projekts die Spannungsqualität (PQ) in sechs ausgewählten Niederspannungsnetzen während mehrerer Monate bis zu einem Jahr erfasst. Dabei sollen auch die Auswirkungen auf die Einhaltung der EN 50160 [2] analysiert werden, wenn Anlagen über die Grenzen der heutigen Regeln [3] hinaus betrieben werden, die die Verteilnetzbetreiber (VNB) bei der Beurteilung von Anschlussgesuchen anwenden. Das Ziel des Projekts ist es, dem BFE, der ElCom und den VNB auf Basis von Messungen in realen Verteilnetzen und einer umfassenden Datenanalyse die wirtschaftlichen Potenziale der Massnahmen «Überwachung», «Smart Grid» bzw. «Netzausbau/-verstärkung» aufzuzeigen.
Netzauswahl
Da die Netztopologie und die Geräte- bzw. Anlagenstruktur in jedem Verteilnetz anders ist, ist es wichtig, dass unterschiedliche Netze untersucht werden können. In den gewählten Netzen der sieben involvierten Netzbetreiber (Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun, IB-Murten, AEW, Primeo Energie, Repower und SIG) sind zusätzlich zu den Lasten auch PV-Anlagen, Wärmepumpen und Ladeinfrastruktur angeschlossen. Die Netze wurden flächendeckend mit den PQ-Messgeräten Linax PQ5000 der im Projekt beteiligten Firma Camille Bauer Metrawatt ausgerüstet.
Messkampagnen
In den Netzen der Projektpartner werden Spannungsqualität und Auslastung analysiert. Der Einfluss von Umschaltungen im Netz und von Massnahmen wird untersucht. Die Messdauer hängt davon ab, welches Phänomen observiert werden soll. In Netzen mit hoher Durchdringung von PV-Anlagen werden beispielsweise über etwa ein Jahr im Sommer die höchsten Spannungswerte und im Winter die niedrigsten gemessen. Dies soll aufzeigen, welche Massnahmen für einen zuverlässigen Netzbetrieb technisch und ökonomisch sinnvoll sind. Basierend auf den Messergebnissen werden für die punktuelle und kontinuierliche Überwachung der Verteilnetze die relevanten Parameter bestimmt und ein generisches Überwachungskonzept erarbeitet.
Qualitätsreserven
Zur Beurteilung der Qualitätsreserven wird der Abstand jedes PQ-Parameters zum jeweiligen Grenzwert gemäss EN 50160 betrachtet.
Die Qualitätsreserven werden in pu (per unit) angegeben und können Werte zwischen 0 (0% Reserve) und 1 (100% Reserve) annehmen. 1,00 pu bedeutet beispielsweise, dass eine Spannungsharmonische einen Pegel von 0 V aufweist. Wurde der Grenzwert bei der Messung erreicht oder überschritten, führt dies zu einer Reserve von 0,00 pu. Für die Bewertung nach EN 50160 muss jeweils ein volles Wochenintervall betrachtet werden. Die Messdaten wurden daher in Kalenderwochen gegliedert.
Die Qualitätsreserven sind an den meisten Messpunkten der fünf bisher gemessenen Netze grösser als 0,30 pu, oft zudem grösser als 0,50 pu. In vielen Fällen wurde die geringste Reserve bei der 7. und 9. Spannungsharmonischen (Uh7 und Uh9) und beim Spannungseffektivwert in Bezug zum oberen Spannungsgrenzwert (Umax) gemessen. Traditionell sind die Trafostufen in vielen Netzen noch für einen Lastbetrieb eingestellt, also ist die Spannung im schwach belasteten Fall deutlich höher als 230 V (Phase-Neutral). Die zunehmende PV-Einspeisung führt dazu, dass gewisse Messpunkte kritisch hohe Versorgungsspannungen aufweisen. Dies zeigte sich insbesondere im folgenden Fall:
Grenzwertverletzungen traten nur in einem von allen gemessenen Netzen auf. Wegen der niedrigen Kurzschlussleistung und der Häufung von PV-Anlagen und Verbrauchern sind bei acht PQ-Parametern nur noch sehr geringe Qualitätsreserven vorhanden (Bild 1). Die PV-Anlagen erhöhen das Spannungsniveau, und die Reserve zur oberen Spannungsgrenze (Umax) wird im Sommer fast aufgebraucht. Die Phasenleiter sind ungleichmässig belastet, sodass die Unsymmetrie der Versorgungsspannung im Winter, wenn viele Lasten betrieben werden, eher geringe Reserven aufweist. Besonders problematisch sind die Oberschwingungsspannungen mit niedrigen Ordnungszahlen. Bei der 3. Spannungsharmonischen kommt es im Winter zu Grenzwertverletzungen, bei der 7. Spannungsharmonischen im Sommer (Bild 2). Die Reserven der 5. und 9. Spannungsharmonischen sind ebenfalls sehr gering.
Die Messdaten zeigen, dass das Spannungsniveau mit steigender PV-Produktion und rückläufiger Last im Sommer einen kritischen Wert erreicht hat. Um zu verhindern, dass der Grenzwert verletzt wird, wurde die PV-Anlage am kritischsten Messpunkt bereits auf 60% der Nennleistung begrenzt. Die Reserve zur Unterspannung (Umin) lag im betrachteten Halbjahr nie unter 54%. Die untersuchten Messpunkte lassen also eine Anpassung der Trafostufe zu. Um eine allfällige Verletzung des unteren Spannungsgrenzwerts auszuschliessen, sind allerdings bei sämtlichen Netzknoten die Spannungsniveaus in Starklastzeiten zu prüfen.
In bestimmten Fällen könnte als erste Massnahme die Veränderung der Trafostufe genügen, um das Spannungsniveau im ganzen Netz zu senken. Allerdings wird zusätzlicher PV-Zubau zu einem weiteren Anstieg des Spannungsniveaus führen. Dabei haben Simulationen gezeigt, dass sowohl eine P(U)-Regelung als auch eine Q(U)-Regelung einfache und sinnvolle Massnahmen für die Einhaltung des Spannungsbandes sind. Kosten und Nutzen einer solchen Lösung sollten deshalb einer Netzverstärkung gegenübergestellt werden. Kritisch niedrige Spannungswerte wegen einer Häufung von Elektrofahrzeugen konnten wegen der geringen Durchdringung der Elektromobilität in den untersuchten Netzen nicht festgestellt werden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wird in einem weiteren Verteilnetz mit erheblicher Gesamtleistung an Ladeinfrastruktur eine Messkampagne durchgeführt, deren Ergebnisse später veröffentlicht werden.
Wenn Netzbetreiber die technischen Anschlussregeln berücksichtigen, ist die Spannungsqualität meist sehr hoch. In Einzelfällen sind die Qualitätsreserven knapp, oder Grenzwerte der EN 50160 werden verletzt, insbesondere dann, wenn eine hohe Anlagenleistung im Verhältnis zur Kurzschlussleistung zugelassen wurde. Grenzwertverletzungen bedeuten allerdings nicht automatisch, dass angeschlossene Geräte gestört werden, da Grenzwerte gewöhnlich unter der von den Geräten geforderten Störfestigkeit liegen. Es gilt aber auch zu beachten, dass ein Einhalten des Grenzwerts nicht garantiert, dass keine Störungen auftreten, denn bei ausschliesslicher Betrachtung der 10-Minuten-Mittelwerte können einzelne kurzzeitige Ausreisser mit Störpotenzial unentdeckt bleiben.
Netzimpedanz
Werden bei Spannungsoberschwingungen für bestimmte Ordnungszahlen hohe Pegel festgestellt, ist es sinnvoll, die Netzimpedanz bei den betroffenen Frequenzen zu messen. Ist sie bei einer bestimmten Frequenz erhöht, so bewirken schon relativ kleine Stromoberschwingungen relevante Spannungsoberschwingungen. Die Messungen sollten einerseits an Anschlusspunkten mit auffälligen Spannungsoberschwingungen erfolgen, andererseits an Netzknoten, an denen künftig weitere Anlagen angeschlossen werden sollen. So lassen sich Netzrückwirkungen besser abschätzen, die durch die neuen Anlagen verursacht würden.
Im Projekt werden die Netzimpedanzmessungen mit dem Online-Network Impedance Spectrometer ONIS 1000 Premium von morEnergy durchgeführt. Das Gerät misst die frequenzabhängige Netzimpedanz von DC bis 150 kHz dreiphasig. Die aktuelle Analyse beschränkt sich auf die Betrachtung des Frequenzbereichs gemäss EN 50160: Der Bereich bis 1,25 kHz (Spannungsoberschwingungen) bzw. bis 2 kHz (Gesamtoberschwingungsgehalt der Spannung THDu) wird betrachtet.
Im Zeitverlauf der 7. Spannungsharmonischen eines ausgewählten Messpunktes sind regelmässig Grenzwertverletzungen sichtbar (Bild 2). Der entsprechende Verlauf der Netzimpedanz weist ein Maximum bei ziemlich genau 350 Hz auf, also bei der Frequenz der 7. Spannungsharmonischen (Bild 3). Eine Stromoberschwingung bei dieser Frequenz verursacht also stärkere Netzrückwirkungen als eine mit derselben Amplitude bei anderen Frequenzen.
Nach diesem Maximum (von 550 Hz bis 2 kHz) ist die Netzimpedanz wieder deutlich tiefer. Da die Netzimpedanz mit zunehmender Frequenz aufgrund der Längsimpedanz der (induktiven) Leitung eigentlich ansteigen sollte, ist dieser Effekt vermutlich den Eingangskapazitäten der angeschlossenen Geräte zuzuschreiben. Diese geringeren Impedanzen führen zu einer gewissen Dämpfung der Spannungsoberschwingungen bei diesen Frequenzen. Dies zeigt sich auch anhand der gemessenen Qualitätsreserven der Spannungsoberschwingungen ab der 11. Ordnung in Bild 1. Von der 11. bis zur 25. Spannungsharmonischen weisen alle Oberschwingungen Qualitätsreserven von mindestens 0,71 pu auf; also werden 71% des erlaubten Bereichs nicht ausgenutzt.
Generisches Überwachungskonzept
Ein wichtiges Ziel des Projekts ist es, den Massnahmen «Smart Grid» und «Netzausbau/-verstärkung» eine mögliche Alternative «Überwachung von Qualitätsreserven» gegenüberzustellen. Dazu wird ein Benchmark für ein generisches Überwachungskonzept definiert, der festlegt, welche Daten und Datenqualität beim Monitoring von Verteilnetzen benötigt werden. Der Benchmark dient als Empfehlung zur Entwicklung von PQ-Messgeräten und zur Erfassung der PQ-Daten im Niederspannungsnetz.
Neben den Anforderungen an das Messequipment ist die richtige Wahl von Messpunkten im Stromnetz entscheidend. Beispielsweise kann eine Messung in einer Trafostation zwar einen generellen Eindruck der Netzsituation geben, aber die Qualität an kritischen Netzknoten lässt sich daraus nicht zuverlässig ableiten. Daher empfiehlt es sich, die Netzknoten mit potenziell schlechter Spannungsqualität zu identifizieren, an denen ein Monitoring der PQ-Parameter vorgenommen werden soll. In Bulletin SEV/VSE 5/2022 wurde ein Ansatz vorgestellt, um solche Netzknoten zu kategorisieren. Zudem könnten auch Messungen an Knoten Sinn machen, an denen Ausbaumassnahmen teuer sind und im Vergleich dazu eine permanente Überwachung mittels Messtechnik die Sicherheit schafft, dass die Parameter der Spannungsqualität keine Grenzwerte verletzen.
Ausblick
Bisher beschäftigte sich das Projekt damit, die Auslastung und Spannungsqualität bei Anwendung der heutigen Anschlussregeln zu messen und die Auswirkungen des Zubaus von Anlagen ohne Massnahmen auf das Netz zu betrachten.
In einem weiteren Schritt werden die Massnahmen «Überwachung», «Smart Grid» und «Netzausbau/-verstärkung» miteinander verglichen. Schliesslich werden generelle Empfehlungen für die Planung und den Betrieb der Verteilnetze ergänzend zu den heute verwendeten Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen (z. B. Technische Regeln für die Beurteilung von Netzrückwirkungen D-A-CH-CZ [3]) abgegeben. Darüber hinaus sollen Ideen für die Weiterentwicklung der EN 50160 entstehen. Der Projektschlussbericht wird im Frühjahr 2024 erscheinen.
Referenzen
[1] www.bfh.ch/de/forschung/forschungsbereiche/bfh-zentrum-energiespeicherung/projekte
[2] EN 50160, Merkmale der Spannung in öffentlichen Elektrizitätsversorgungsnetzen, 2020.
[3] Technische Regeln zur Beurteilung von Netzrückwirkungen, VSE, OE, VDE FNN, CSRES, 2021.
Link: www.bfh.ch/de/forschung/forschungsbereiche/labor-elektrizitaetsnetze
Dank
Ein besonderer Dank gilt dem Bundesamt für Energie BFE und den beteiligten Institutionen für ihre Unterstützung. Im Projekt QuVert sind nebst der Berner Fachhochschule auch die Fachhochschule Westschweiz (HES-SO Valais- Wallis), Camille Bauer Metrawatt AG, AEW Energie AG, Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun AG, IB-Murten, Repower AG, Primeo Energie und Services Industriels de Genève involviert.
Download: 2023_4_Schori_Qualitaetsreserven_in_Verteilnetzen.pdf
Autoren
Stefan Schori ist ist Tenure-Track-Dozent und Gruppenleiter im Labor für Elektrizitätsnetze der Berner Fachhochschule.
Michael Höckel führt als Professor für Energiesysteme sowohl das Labor für Elektrizitätsnetze als auch das Labor für Wasserstoffsysteme der Berner Fachhochschule.
Ron Buntschu arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Labor für Elektrizitätsnetze der Berner Fachhochschule.