06 Jul

Qualitäts­reserven in Verteilnetzen – Forschungsprojekt QuVert mit Camille Bauer Messinstrumenten

Für eine kosten­effiziente Aus­legung und einen stabilen Betrieb der stark bean­spruchten künf­tigen Verteil­netze ist es essen­ziell, den Einfluss verschie­dener Netz­varian­ten und Belastungs­zustände auf die Span­nungs­qualität zu verstehen. Hierfür werden die Qualitäts­reserven mit Mess­kam­pagnen analysiert und ein generi­sches Über­wachungs­konzept formuliert.
Qualitäts­reserven in Verteilnetzen Forschungsprojekt QuVert

Im Forschungs­projekt QuVert (Nutzung von Qualitäts­reserven in Verteilnetzen), das vom Bundesamt für Energie BFE unterstützt wird, erforscht ein Team des Labors für Elektri­zitäts­netze der BFH gemeinsam mit acht Partnern, wie viel Reserve die Verteilnetze bezüglich Spannungs­qualität aufweisen und wie sich die zunehmende Netzauslastung auf die von der Norm beschriebenen Phänomene auswirkt [1]. Die Spannungs­qualität wird in Nieder­span­nungs­netzen wegen des hohen Aufwands nicht flächendeckend erfasst. Deren Ausprägung und die Einflüsse auf das Stromnetz durch neue Anlagen können also mit den bisher vorhandenen Daten nicht wissenschaftlich beurteilt werden.

Zur Untersuchung der Qualitäts­reserven wird im Rahmen des Projekts die Spannungs­qualität (PQ) in sechs ausgewählten Nieder­span­nungs­netzen während mehrerer Monate bis zu einem Jahr erfasst. Dabei sollen auch die Auswirkungen auf die Einhaltung der EN 50160 [2] analysiert werden, wenn Anlagen über die Grenzen der heutigen Regeln [3] hinaus betrieben werden, die die Verteil­netz­betreiber (VNB) bei der Beurteilung von Anschlussgesuchen anwenden. Das Ziel des Projekts ist es, dem BFE, der ElCom und den VNB auf Basis von Messungen in realen Verteilnetzen und einer umfassenden Datenanalyse die wirtschaftlichen Potenziale der Massnahmen «Überwachung», «Smart Grid» bzw. «Netzausbau/-verstärkung» aufzuzeigen.

Netzauswahl

Da die Netztopologie und die Geräte- bzw. Anlagenstruktur in jedem Verteilnetz anders ist, ist es wichtig, dass unterschiedliche Netze untersucht werden können. In den gewählten Netzen der sieben involvierten Netzbetreiber (Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun, IB-Murten, AEW, Primeo Energie, Repower und SIG) sind zusätzlich zu den Lasten auch PV-Anlagen, Wärmepumpen und Ladeinfrastruktur angeschlossen. Die Netze wurden flächendeckend mit den PQ-Messgeräten Linax PQ5000 der im Projekt beteiligten Firma Camille Bauer Metrawatt ausgerüstet.

Messkampagnen

In den Netzen der Projektpartner werden Spannungs­qualität und Auslastung analysiert. Der Einfluss von Umschaltungen im Netz und von Massnahmen wird untersucht. Die Messdauer hängt davon ab, welches Phänomen observiert werden soll. In Netzen mit hoher Durchdringung von PV-Anlagen werden beispielsweise über etwa ein Jahr im Sommer die höchsten Spannungswerte und im Winter die niedrigsten gemessen. Dies soll aufzeigen, welche Massnahmen für einen zuverlässigen Netzbetrieb technisch und ökonomisch sinnvoll sind. Basierend auf den Mess­ergebnissen werden für die punktuelle und kontinuierliche Überwachung der Verteilnetze die relevanten Parameter bestimmt und ein generisches Überwachungskonzept erarbeitet.

Qualitätsreserven

Zur Beurteilung der Qualitäts­reserven wird der Abstand jedes PQ-Parameters zum jeweiligen Grenzwert gemäss EN 50160 betrachtet.

Die Qualitäts­reserven werden in pu (per unit) angegeben und können Werte zwischen 0 (0% Reserve) und 1 (100% Reserve) annehmen. 1,00 pu bedeutet beispielsweise, dass eine Spannungs­harmonische einen Pegel von 0 V aufweist. Wurde der Grenzwert bei der Messung erreicht oder überschritten, führt dies zu einer Reserve von 0,00 pu. Für die Bewertung nach EN 50160 muss jeweils ein volles Wochenintervall betrachtet werden. Die Messdaten wurden daher in Kalenderwochen gegliedert.

Bild 2 Gemessener Verlauf der 7. Spannungs­harmonischen (Uh7) mit kritischen Pegeln im Sommer­halbjahr (Messpunkt C1P1-60), mit eingezeich­netem 95-%-Grenzwert nach EN 50160 (rote Linie).
Bild 1 Gemessene Qualitäts­reserven bezüglich EN 50160 an den drei Messpunkten C1P1-60 (PV-Anlage), C1V1 und C1V2 (Verteilkabinen) eines Nieder­span­nungs­netzes mit geringen Qualitäts­reserven und Grenz­wert­verletzungen.

Die Qualitäts­reserven sind an den meisten Messpunkten der fünf bisher gemessenen Netze grösser als 0,30 pu, oft zudem grösser als 0,50 pu. In vielen Fällen wurde die geringste Reserve bei der 7. und 9. Spannungs­harmonischen (Uh7 und Uh9) und beim Spannungs­effektiv­wert in Bezug zum oberen Spannungs­grenzwert (Umax) gemessen. Traditionell sind die Trafostufen in vielen Netzen noch für einen Lastbetrieb eingestellt, also ist die Spannung im schwach belasteten Fall deutlich höher als 230 V (Phase-Neutral). Die zunehmende PV-Einspeisung führt dazu, dass gewisse Messpunkte kritisch hohe Versorgungs­spannungen aufweisen. Dies zeigte sich insbesondere im folgenden Fall:

Grenz­wert­verletzungen traten nur in einem von allen gemessenen Netzen auf. Wegen der niedrigen Kurzschlussleistung und der Häufung von PV-Anlagen und Verbrauchern sind bei acht PQ-Parametern nur noch sehr geringe Qualitäts­reserven vorhanden (Bild 1). Die PV-Anlagen erhöhen das Spannungs­niveau, und die Reserve zur oberen Spannungsgrenze (Umax) wird im Sommer fast aufgebraucht. Die Phasenleiter sind ungleich­mässig belastet, sodass die Unsymmetrie der Versorgungs­spannung im Winter, wenn viele Lasten betrieben werden, eher geringe Reserven aufweist. Besonders problematisch sind die Ober­schwingungs­spannungen mit niedrigen Ordnungszahlen. Bei der 3. Spannungs­harmonischen kommt es im Winter zu Grenz­wert­verletzungen, bei der 7. Spannungs­harmonischen im Sommer (Bild 2). Die Reserven der 5. und 9. Spannungs­harmonischen sind ebenfalls sehr gering.

Bild 2 Gemessener Verlauf der 7. Spannungs­harmonischen (Uh7) mit kritischen Pegeln im Sommer­halbjahr (Messpunkt C1P1-60), mit eingezeich­netem 95-%-Grenzwert nach EN 50160 (rote Linie).
Bild 2 Gemessener Verlauf der 7. Spannungs­harmonischen (Uh7) mit kritischen Pegeln im Sommer­halbjahr (Messpunkt C1P1-60), mit eingezeich­netem 95-%-Grenzwert nach EN 50160 (rote Linie).

Die Messdaten zeigen, dass das Spannungs­niveau mit steigender PV-Produktion und rückläufiger Last im Sommer einen kritischen Wert erreicht hat. Um zu verhindern, dass der Grenzwert verletzt wird, wurde die PV-Anlage am kritischsten Messpunkt bereits auf 60% der Nennleistung begrenzt. Die Reserve zur Unter­spannung (Umin) lag im betrachteten Halbjahr nie unter 54%. Die untersuchten Messpunkte lassen also eine Anpassung der Trafostufe zu. Um eine allfällige Verletzung des unteren Spannungs­grenzwerts auszu­schliessen, sind allerdings bei sämtlichen Netzknoten die Spannungsniveaus in Starklastzeiten zu prüfen.

In bestimmten Fällen könnte als erste Massnahme die Veränderung der Trafostufe genügen, um das Spannungs­niveau im ganzen Netz zu senken. Allerdings wird zusätzlicher PV-Zubau zu einem weiteren Anstieg des Spannungs­niveaus führen. Dabei haben Simulationen gezeigt, dass sowohl eine P(U)-Regelung als auch eine Q(U)-Regelung einfache und sinnvolle Massnahmen für die Einhaltung des Spannungs­bandes sind. Kosten und Nutzen einer solchen Lösung sollten deshalb einer Netzverstärkung gegen­über­gestellt werden. Kritisch niedrige Spannungs­werte wegen einer Häufung von Elektro­fahrzeugen konnten wegen der geringen Durchdringung der Elektromobilität in den untersuchten Netzen nicht festgestellt werden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wird in einem weiteren Verteilnetz mit erheblicher Gesamtleistung an Ladeinfrastruktur eine Messkampagne durchgeführt, deren Ergebnisse später veröffentlicht werden.

Wenn Netzbetreiber die technischen Anschlussregeln berücksichtigen, ist die Spannungs­qualität meist sehr hoch. In Einzelfällen sind die Qualitäts­reserven knapp, oder Grenzwerte der EN 50160 werden verletzt, insbesondere dann, wenn eine hohe Anlagenleistung im Verhältnis zur Kurzschluss­leistung zugelassen wurde. Grenz­wert­verletzungen bedeuten allerdings nicht automatisch, dass angeschlossene Geräte gestört werden, da Grenzwerte gewöhnlich unter der von den Geräten geforderten Störfestigkeit liegen. Es gilt aber auch zu beachten, dass ein Einhalten des Grenzwerts nicht garantiert, dass keine Störungen auftreten, denn bei ausschliesslicher Betrachtung der 10-Minuten-Mittelwerte können einzelne kurzzeitige Ausreisser mit Störpotenzial unentdeckt bleiben.

Netzimpedanz

Werden bei Spannungs­ober­schwin­gungen für bestimmte Ordnungs­zahlen hohe Pegel festgestellt, ist es sinnvoll, die Netzimpedanz bei den betroffenen Frequenzen zu messen. Ist sie bei einer bestimmten Frequenz erhöht, so bewirken schon relativ kleine Strom­ober­schwin­gungen relevante Spannungs­ober­schwin­gungen. Die Messungen sollten einerseits an Anschlusspunkten mit auffälligen Spannungs­ober­schwin­gungen erfolgen, andererseits an Netzknoten, an denen künftig weitere Anlagen angeschlossen werden sollen. So lassen sich Netz­rück­wirkungen besser abschätzen, die durch die neuen Anlagen verursacht würden.

Im Projekt werden die Netz­impedanz­messungen mit dem Online-Network Impedance Spectrometer ONIS 1000 Premium von morEnergy durchgeführt. Das Gerät misst die frequenz­abhängige Netzimpedanz von DC bis 150 kHz dreiphasig. Die aktuelle Analyse beschränkt sich auf die Betrachtung des Frequenzbereichs gemäss EN 50160: Der Bereich bis 1,25 kHz (Spannungs­ober­schwin­gungen) bzw. bis 2 kHz (Gesamt­ober­schwingungs­gehalt der Spannung THDu) wird betrachtet.

Bild 3 Verlauf der gemessenen Netzimpedanz mit dem Maximum bei rund 350 Hz (7. Harmonische).
Bild 3 Verlauf der gemessenen Netzimpedanz mit dem Maximum bei rund 350 Hz (7. Harmonische).

Im Zeitverlauf der 7. Spannungs­harmonischen eines ausgewählten Messpunktes sind regelmässig Grenz­wert­verletzungen sichtbar (Bild 2). Der entsprechende Verlauf der Netzimpedanz weist ein Maximum bei ziemlich genau 350 Hz auf, also bei der Frequenz der 7. Spannungs­harmonischen (Bild 3). Eine Stromoberschwingung bei dieser Frequenz verursacht also stärkere Netz­rück­wirkungen als eine mit derselben Amplitude bei anderen Frequenzen.

Nach diesem Maximum (von 550 Hz bis 2 kHz) ist die Netzimpedanz wieder deutlich tiefer. Da die Netzimpedanz mit zunehmender Frequenz aufgrund der Längsimpedanz der (induktiven) Leitung eigentlich ansteigen sollte, ist dieser Effekt vermutlich den Eingangs­kapazitäten der angeschlossenen Geräte zuzuschreiben. Diese geringeren Impedanzen führen zu einer gewissen Dämpfung der Spannungs­ober­schwin­gungen bei diesen Frequenzen. Dies zeigt sich auch anhand der gemessenen Qualitäts­reserven der Spannungs­ober­schwin­gungen ab der 11. Ordnung in Bild 1. Von der 11. bis zur 25. Spannungs­harmonischen weisen alle Oberschwingungen Qualitäts­reserven von mindestens 0,71 pu auf; also werden 71% des erlaubten Bereichs nicht ausgenutzt.

Generisches Überwachungskonzept

Ein wichtiges Ziel des Projekts ist es, den Massnahmen «Smart Grid» und «Netzausbau/-verstärkung» eine mögliche Alternative «Überwachung von Qualitäts­reserven» gegen­über­zustellen. Dazu wird ein Benchmark für ein generisches Überwachungskonzept definiert, der festlegt, welche Daten und Datenqualität beim Monitoring von Verteilnetzen benötigt werden. Der Benchmark dient als Empfehlung zur Entwicklung von PQ-Messgeräten und zur Erfassung der PQ-Daten im Nieder­span­nungs­netz.

Neben den Anforderungen an das Mess­equipment ist die richtige Wahl von Messpunkten im Stromnetz entscheidend. Beispielsweise kann eine Messung in einer Trafostation zwar einen generellen Eindruck der Netzsituation geben, aber die Qualität an kritischen Netzknoten lässt sich daraus nicht zuverlässig ableiten. Daher empfiehlt es sich, die Netzknoten mit potenziell schlechter Spannungs­qualität zu identifizieren, an denen ein Monitoring der PQ-Parameter vorgenommen werden soll. In Bulletin SEV/VSE 5/2022 wurde ein Ansatz vorgestellt, um solche Netzknoten zu kategorisieren. Zudem könnten auch Messungen an Knoten Sinn machen, an denen Ausbau­mass­nahmen teuer sind und im Vergleich dazu eine permanente Überwachung mittels Messtechnik die Sicherheit schafft, dass die Parameter der Spannungs­qualität keine Grenzwerte verletzen.

Ausblick

Bisher beschäftigte sich das Projekt damit, die Auslastung und Spannungs­qualität bei Anwendung der heutigen Anschluss­regeln zu messen und die Auswir­kungen des Zubaus von Anlagen ohne Massnahmen auf das Netz zu betrachten.

In einem weiteren Schritt werden die Massnahmen «Über­wachung», «Smart Grid» und «Netzausbau/-verstärkung» miteinander verglichen. Schliesslich werden generelle Empfeh­lungen für die Planung und den Betrieb der Verteilnetze ergänzend zu den heute verwendeten Regeln zur Beurteilung von Netz­rück­wirkungen (z. B. Technische Regeln für die Beurteilung von Netz­rück­wirkungen D-A-CH-CZ [3]) abgegeben. Darüber hinaus sollen Ideen für die Weiter­entwicklung der EN 50160 entstehen. Der Projekt­schluss­bericht wird im Frühjahr 2024 erscheinen.

Referenzen

[1] www.bfh.ch/de/forschung/forschungsbereiche/bfh-zentrum-energiespeicherung/projekte

[2] EN 50160, Merkmale der Spannung in öffentlichen Elektrizitätsversorgungsnetzen, 2020.

[3] Technische Regeln zur Beurteilung von Netz­rück­wirkungen, VSE, OE, VDE FNN, CSRES, 2021.

Link: www.bfh.ch/de/forschung/forschungsbereiche/labor-elektrizitaetsnetze

Dank

Ein besonderer Dank gilt dem Bundesamt für Energie BFE und den beteiligten Institutionen für ihre Unterstützung. Im Projekt QuVert sind nebst der Berner Fachhochschule auch die Fachhochschule Westschweiz (HES-SO Valais- Wallis), Camille Bauer Metrawatt AG, AEW Energie AG, Energie Service Biel/Bienne, Energie Thun AG, IB-Murten, Repower AG, Primeo Energie und Services Industriels de Genève involviert.

Download: 2023_4_Schori_Qualitaetsreserven_in_Verteilnetzen.pdf

Autoren

Stefan Schori ist ist Tenure-Track-Dozent und Gruppen­leiter im Labor für Elektri­zitäts­netze der Berner Fach­hoch­schule.

Michael Höckel führt als Professor für Energie­systeme sowohl das Labor für Elektri­zitäts­netze als auch das Labor für Wasser­stoff­systeme der Berner Fach­hoch­schule.

Ron Buntschu arbeitet als Wissen­schaft­licher Mitar­beiter im Labor für Elektri­zitäts­netze der Berner Fach­hoch­schule.

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